Der Exote unter den Viertaktern der Fünfziger

(vom Typreferenten Manfred E. Sprenger)

Vorstellung der V35 Bergmeister auf der IFMA 1951 in Frankfurt, das gezeigte Motorrad hatte ein Holzmodell als Motor und einige KR 25 HM-Anbauteile.

Die Boxermodelle der KR6-Baureihe waren in der Seitenwagenklasse Anfang der Dreißigerjahre bei Bergrennen unschlagbar. Der Münchner Möritz errang zahllose Siege mit seinem KR6-Gespann und wurde 1931 und 1932 Europa-Bergmeister. Die Entwicklung des Motors geht zurück auf die Anfänge des Motorradbaues nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Modell K.R.1. Die konsequente Weiterentwicklung in den Type KR 2, KR 3 und KR 4 (eine KR 5 wurde nie gebaut) führte zur KR 6, die dann in vier unterschiedlichen Entwicklungsstufen und Ausführungen von 1928 bis 1936 gebaut wurde.
Die Kraft und das Drehmoment des Zweizylinder-600ccm-Motors konnte besonders bei Bergrennen ausgenutzt werden und verhalf Victoria zu vielen Siegen. Das vollkommen überarbeitete Modell von 1933 wurde deshalb außer der trockenen und bereits bestehenden Typenbezeichnung zusätzlich auf den Namen „Bergmeister“ getauft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann für Victoria die Stunde Null. Ein Großteil der Firmengebäude lag durch die Bombenangriffe der Alliierten in Schutt und Asche. Aus einigen Lagerbeständen wurden die ersten Motorräder zusammengeschraubt. In diesen Nachkriegsjahren wurde mit den Zweitaktmodellen der Grundstein für einen erfolgreichen Start in den Zweiradboom gelegt. Was aber war, wenn die Victoria-Fahrer nach einem Viertaktmotor verlangten oder der Wunsch nach einem leistungsstarken Gespannmotorrad aufkam, mit dem auch drei Personen bequem transportiert werden konnten, ohne dass man mit 60 km/h durch die Lande zuckeln musste?
Man war sich schnell darüber klar, dass ein Motorrad in der Tradition der „Bergmeister“- Modelle mit genügend Leistung für alle diese Zwecke hermusste, wollte man nicht entscheidende Marktanteile verlieren. Das Wirtschaftswunder keimte schon, und ein entsprechender Teil der Kundschaft war auch bereit, etwas mehr für ein ansprechendes Motorrad zu zahlen.

Prototyp der V35 Bergmeister, aufgenommen auf dem Werksgelände, noch mit KR26-Kotflügeln und Tank sowie vielen nicht serienmäßigen Details.
Am Tank sind auch noch die runden Tankembleme der 250er Modelle angeschraubt.
Das obere Schutzrohr der Telegabel ist lackiert, in der Serie war es immer verchromt. Die Lackierung und Linierung selbst ist stilistisch an die letzte KR 25 HM oder die erste KR 26 angelehnt.

In der Entwicklungsabteilung wurden schon 1951 die ersten Pläne für ein Modell geschmiedet, das sich grundlegend von denen der Konkurrenz unterscheiden sollte. Man war sozusagen aus der Firmentradition heraus kühn genug, neue Wege einzuschlagen.
Es wurde ein Mann zu Rate gezogen, der schon vor dem Krieg beste Arbeit für die Victoria-Werke geleistet hatte, und jetzt in Ingolstadt mit seinem Bruder ein Konstruktionsbüro betrieb. Es wäre nicht der alte Richard Küchen gewesen, hätte er nicht schon einen Entwurf in der Schublade gehabt, der genau in dieses Konzept passte.
Ein Zweizylinder-Motor sollte es sein, mit guten Kühlungsverhältnissen und schon mit dem Gedanken an einen wartungsarmen Antrieb des Hinterrades. Was lag da näher als ein V-Motor. Genau so einen Prototyp hatte Küchen 1938 für Ardie in einer 750-ccm-Version entwickelt, der aber durch den Ausbruch des Krieges niemals in Serie gebaut wurde.
Die Idee dieses Motors wurde für Victoria von ihm wieder aufgegriffen und in einer 350-ccm-Version weiterentwickelt. Dazu kamen Konstruktionselemente wie das Kettengetriebe und die vollkommen glatte Motor- und Getriebeeinheit, die Küchen schon in den Boxermodellen von Zündapp, für deren Entwicklung er auch verantwortlich war, umgesetzt hatte.

Dass diese Neuentwicklung außer der Bezeichnung V 35 auf den für Victoria traditionsreichen Namen „Bergmeister“ getauft werden sollte, stand außer Frage. Damit war ein Motorrad gelungen, das genau in die Marktlücke zwischen die Einzylinder von Horex und BMW und die Boxermodelle von Zündapp und BMW passte. Der Verkaufspreis von DM 2.475,- lag zwar etwas über dem der Einzylinderkonkurrenz, aber deutlich unter dem der Boxermodelle.
Die Verkaufszahlen der Bergmeister wären bestimmt um einiges höher gewesen, wäre sie früher auf den Markt gekommen. Schon Ende des Jahres 1951 wurde sie in den Verkaufsprospekten in einer optischen Form angekündigt, die niemals in Serie gebaut wurde. Danach saßen die beiden Werkzeugkästen über der Hinterradfederung, die Gabel stammt aus den KR 25 HM Modellen, ebenso die schmale Form der Kotflügel. Erst Ende 1953 konnten die ersten V 35 aus der Produktion laufen, es fehlten also die Verkaufszahlen aus fast zwei Jahren. Schon drei Jahre später, 1956 wurden im Werk die letzten Bergmeister zusammengeschraubt. Eine so konsequente Weiterentwicklung wie bei den gleichnamigen Vorkriegs-Boxermodellen war der kleinen Schwester V 35 leider nicht beschieden. Sie wäre zu einem exzellenten Motorrad herangereift, dafür hatte sie alle Voraussetzungen. Die Wettbewerbsmodelle mit Zweivergaser-Anlage und Hinterradschwinge zeigten schon den Weg, in den die Richtung gegangen wäre, wenn... , aber das ist eine andere Geschichte.
Berücksichtigt man die jahrelange Entwicklungsgeschichte der V-Motoren, dann braucht die Bergmeister den Konstruktionen von Lilac, Moto Guzzi und den Honda CX-Modellen in nichts nachzustehen. Ein zeitlos schönes Motorrad ist sie sowieso.